„Einfach machen und durch“
Die Varia GmbH montiert als Dienstleister einen der stabilsten Rad-Gepäckträger und ist dafür nach Münster gezogen
Alexa Berndt packt an. „Wenn Tüten gepackt werden, dann bin ich da“, beschreibt die Münsteranerin ihren Job. „Wenn Tüten getackert werden, dann bin ich an der Tacker-Maschine. Wenn bei der Montage wer fehlt, dann bin ich da.“ Mit einem Wort: Die 37-Jährige arbeitet bei der Varia GmbH „überall“. Sie rollt an jeden Arbeitsplatz, wenn dort ein Job zu erledigen ist.
„Ich weiß gar nicht“, lacht Alexa Berndt, „was die ohne mich hier gemacht haben.“ Seit gut zwei Jahren pendelt sie in ihrem Rollstuhl zwischen Büro und Montagehalle der Varia GmbH. Sie verteilt Arbeitsaufträge an die Kollegen. Die meisten Aufträge drehen sich um Fahrrad-Gepäckträger, die Varia in Münsters Norden für die Tubus Carrier System GmbH montiert. Ein edles Produkt, das so stabil ist, dass es „auch extreme Torturen nicht krumm “ nimmt, wie es in der Werbung heißt.
Bei Tubus, schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite angesiedelt, werden Gepäckträger gefertigt – hochbelastbar und federleicht. Das Unternehmen, das seit zwei Jahrzehnten hochwertige Fahrradgepäckträger-Systeme herstellt und weltweit als führender Hersteller in diesem Markt gilt, ist von sich überzeugt: Es gibt 30 Jahre Garantie auf die Träger.
„Wir montieren 3000 bis 4000 Gepäckträger in der Woche – ich hab’s selber nicht geglaubt“, sagt Alexa Berndt. Tubus und dessen Chef Peter Ronge verlassen sich darauf, dass die Varia-Mitarbeiter die Gepäckträger mit einer Federklappe versehen, Namensschild darauf kleben und Rücklichter einbauen. Produziert werden die Träger in China. Die Varia als Tochterbetrieb der Stift Tilbeck GmbH aus Havixbeck, die dort in den Baumbergen die Tilbecker Werkstätten betreibt, ist ein Integrationsunternehmen, das unter anderem vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) unterstützt wird. Veredelt, montiert und versandt wird aus dem Münsterland. Die Endmontage durch die Varia GmbH mit ihren behinderten und nicht-behinderten Mitarbeitern verwandelt die Träger in die vom Kunden bestellte Variante.
Bis vor kurzem hat die Bürokauffrau Alexa Berndt sogar noch fünf Stunden mehr bei Varia gearbeitet. Aber ihr Achtjähriger zuhause, der geht nun in die dritte Schulklasse. „Jetzt wird’s ernst.“ Er braucht die Mutter nun mehr bei den Hausaufgaben. Alexa Berndt hat Glück im Unglück gehabt. Ganz viel. Denn sie hat einen schweren Autounfall vor 15 Jahren überlebt, bei dem ihr damaliger Freund das Auto fuhr. Seitdem ist sie querschnittsgelähmt, auf einen Rollstuhl angewiesen. „Richtig in den Graben rein, überschlagen, ihm ist nichts passiert.“ Sie bemüht sich, es nüchtern klingen zu lassen, wenn sie davon erzählt, wie ihr damaliger Freund sie dann verlassen hat. Und nicht nur er. „Von meinem besten Freunden sind zwei geblieben“, sagt sie bitter.
Vorher hat sie keinen Kontakt zu Behinderten gehabt, erzählt sie. „Aber die Weltsicht ändert sich sofort: Man sieht alles ganz anders. Man sieht jede Bordsteinkante. Auch ich habe früher mal auf einem Behindertenparkplatz geparkt. Deshalb rege ich mich heute nicht so auf, wenn einer darauf steht.“ Nur sie hat damals erlebt, wie Freunde sagen: Die kann keine Party mehr machen. Die kann nirgendwo mehr mit hin. Sie kämpft heute gegen diese Sicht an und sagt: „Man kann ja noch ganz viel machen.“ Zum Beispiel eine Umschulung zur Bürokauffrau wie sie. „Einfach machen und durch.“
Alexa Berndt hat ihr Leben und ihre Arbeit mit der Behinderung organisiert. Sie wohnt zusammen mit ihrem Ehemann und Sohn mitten in der Stadt in der dritten Etage, unter ihr die Eltern. Das Haus der Oma hat einen Aufzug bekommen. Morgens um kurz nach 8 Uhr rollt sie mit ihren Auto bei Varia vor, wuchtet den Rolli aus dem Wagen – und der Arbeitstag kann starten. Sie freut sich, dass sie mit Varia-Betriebsleiter Martin Arning gut zusammenarbeitet. Vorher hat sie in einer Großwäscherei in der Verwaltung gearbeitet. Über das Internet findet sie den neuen Job bei Varia. „Ich fühlte mich gleich wohl und bin froh, das ich diesen Schritt gewagt habe.“
In der Varia GmbH hat Alexa Berndt zehn Kollegen, zählt Martin Arning auf, davon sind sieben behindert. Mit weiteren Mitarbeitern arbeiten sie in der Endmontage, wo sie 84 verschiedene Gepäckträger-Modelle zusammenbauen. An einer scheinbar endlos langen Hallenwand hängen alle Modelle. Eine beeindruckende Vielfalt. Bis 2008 fand die Endmontage noch in Tilbeck statt. Arning: „Dort haben wir die ersten Träger montiert. Dann hat sich das so langsam aufgebaut.“ Und heute pendeln Werkstattmitarbeiter nach Münster zu Varia, um dort zu arbeiten.
Die räumliche Nähe zwischen Auftraggeber und Dienstleister hat etliche logistische Probleme gelöst. Es gibt gemeinsame Teams von Varia- und Tubus-Mitarbeitern, und auch Varia-Kollegen, die auf der anderen Straßenseite ihren Arbeitsplatz haben. „Das geht nahtlos ineinander über. Da sind wir flexibel.“ So wie Alexa Berndt, die schlagfertig sagt: „Ich hab hier All-in gebucht: im Büro und in der Produktion. Das war die Einstellungsbedingung: Überall. Das Mädchen für alles.“