Zeit ist das Wichtigste
VARIA, Havixbeck
Beim Rösten von Kaffee dreht sich alles um einen einzigen Moment – und um den Geschmack. Der Unternehmensberater und Kaffeeröster Günther Schröer gibt in Tilbeck seine Erfahrungen und sein Wissen an das Integrationsunternehmen VARIA weiter.
Günther Schröer ist Röstmeister. Er steht vor einem pechschwarzen Kaffeeröster. Seine linke Hand liegt auf einer Schütte aus poliertem Messing. Minute um Minute schaut Schröer auf das Röstgut, achtet auf die steigende Gradzahl im Steuergerät. 209 Grad Celsius zeigt das Thermometer an. So heiß ist es in dem Ofen, in dem gerade die Brazil Yellow Bourbon-Bohnen knisternd und knackend die Farbe wechseln.
Röstkaffee hat rund 800 verschiedene Aromen. Genau das mag Günther Schröer an seinem Beruf: „Kaffee hat mich immer interessiert und fasziniert.“ Er ist 64 Jahre alt, gelernter Drogist, hat über 20 Jahre Erfahrung als Dokumenten-Manager gesammelt und berät noch heute Unternehmen. Aber wegen seiner Leidenschaft zum Kaffee hat Schröer eine eigene Rösterei in Dülmen aufgebaut. „Wir haben nach kurzer Zeit eine schwarze Null geschrieben.“
Privatrösterei übernommen
Von dem Erfolg des enthusiastischen Kaffeerösters profitiert seit dem 1. Januar 2013 auch das Integrationsunternehmen VARIA GmbH. Die Tochterfirma des Stifts Tilbeck hat die Privatrösterei Schröer übernommen und führt die erste Filiale in Dülmen weiter. Ein zweiter Standort ist an das neu gestaltete »Café am Turm« im münsterländischen Havixbeck-Tilbeck angegliedert worden. Über zehn Aushilfen und 13 Festangestellte haben dort eine Arbeit gefunden – fünf Beschäftigte des Stammpersonals haben eine Behinderung. Und Günther Schröer, der die Idee zu der engen Zusammenarbeit hatte, ist mit vollem Engagement auch weiterhin dabei: als Berater und Röstmeister.
„Für uns ist das eine riesige Chance“, freut sich VARIA-Geschäftsführer Norbert Vowinkel, „denn beide Standorte befruchten sich gegenseitig.“ Über mehrere Jahre haben er und Schröer den Betrieb durchgeplant, sich in Geduld geübt, sich angenähert. Heute gibt es neben den Filialen auch einen Online-Shop für den selbst gerösteten Kaffee.
Vowinkel freut sich, dass die Zusammenarbeit mit dem Unternehmer Schröer in die Gründung einer neuen Tochter des Integrationsunternehmens mündete: VARIA ist schon in der Industriemontage aktiv. „Günther Schröer ist jemand, der so denkt wie wir. Da geht es nicht um reine Profitorientierung.“ Das passt zum Stift Tilbeck, das sich als Einrichtung für Menschen mit Behinderungen auch allen anderen Menschen öffnet. Mit dem Café zum Beispiel, das 15 verschiedene Kaffeesorten anbietet.
Gefunden, was bisher fehlte
Günther Schröer zieht unterdessen eine Probe Kaffeebohnen aus dem Röster. Er wirft einen kurzen Blick darauf, schüttelt leicht den Kopf und schiebt die Bohnen zurück in den Ofen. Der richtige Moment ist noch nicht gekommen. Neben Günther Schröer steht Markus Krümpel. Er lässt den Röstmeister nicht aus den Augen. Der 33-Jährige hatte bereits einen Job auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, ist gelernter Fleischer, war Zeitarbeiter und zuletzt Briefzusteller. Wegen einer Erkrankung kam er mit der Hektik und dem Zeitdruck aber nicht mehr zurecht. Im Stift Tilbeck hat er wieder Fuß gefasst.
Der Kontakt kam über den Sozialdienst seiner Klinik zustande. „Hier habe ich gefunden, was mir bisher gefehlt hat“, sagt Krümpel. Nun sieht er die Chance, bei Schröer einen Teil des Rösthandwerks zu erlernen. Krümpel hat ein Praktikum absolviert und wird mit Unterstützung des LWL für den Job qualifiziert. Über das Integrationsunternehmen kehrt er auf einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz zurück. „Mir macht es Spaß, zu arbeiten. Und das Team hier ist supernett.“
Mit Günther Schröer hat er im Alltag viel zu tun. Das Vorstandsmitglied der Deutschen Röstergilde bildet Barista-Nachwuchs aus, nun auch bei VARIA. „Es macht mir Freude, jungen Menschen betriebswirtschaftlich und fachlich eine fundierte Basis zu geben, damit ein Unternehmen funktionieren kann“, sagt Schröer. Früher gab es in Deutschland rund 3000 Röstereien, dann kam der industriell geröstete Kaffee auf den Markt. Das bedeutete den Niedergang der kleinen Betriebe. Inzwischen sind es wieder gut 300. „Es geht bei uns um das Handwerkliche. Und manche Dinge brauchen eben mehr Zeit“, sagt er, bevor er sich zusammen mit Krümpel wieder dem Röstgerät zuwendet.
Der Ofen ist etwas größer als 1,80 Meter, nicht einmal einen Meter breit und 340 Kilo schwer. Gusseisen, hochpoliertes Messing, ein Profigerät. Bis zu fünf Kilo Rohkaffee können darin geröstet werden. 212 Grad zeigt die Steuerung des Ofens an. Schröer nimmt die Kaffeebohnen noch einmal heraus, aber das Ergebnis reicht dem großen Mann mit den kurzen grauen Haaren noch nicht. Also wieder zurück in die Heißluft. Er nickt Markus Krümpel zu, der schaltet das Kaltluftgebläse im Auffangbecken an. Zum Abbruch des Röstvorgangs muss der Kaffee schnell abgekühlt werden.
Eine soziale Verpflichtung
Für Schröer war die Übernahme durch VARIA ein gewollter Einschnitt: „Das ist für mich der Einstieg in den Ausstieg aus meinem bisherigen Beruf.“ Denn seine persönliche Lebensplanung sieht vor: Mehr Kaffeebranche, weniger IT-Beratung. „Und es ist doch genial, wenn man als älterer Mensch etwas von seinem Wissen weitergeben kann.“ Er hat auch früher schon Integrationsunternehmen beraten.
„217 Grad.“ Günther Schröer zieht wieder eine Probe, nickt sichtlich zufrieden. „Es ist soweit“, sagt er zu Krümpel. Schröer öffnet die Trommel. Die Bohnen rieseln in das Sieb darunter und werden vom Rechen durch den Luftstrom geschoben. Innerhalb von Sekunden breitet sich der Duft frisch gerösteten Kaffees im Café aus.
Arbeit für Menschen mit einer Behinderung zu organisieren, entspricht Schröers Verständnis vom Unternehmer-Sein. „Das ist für mich mit einer sozialen Verpflichtung verbunden. Ich will zeigen, dass man es auch anders machen kann.“ Für Günther Schröer ist es wichtig, die Arbeit am Menschen zu orientieren – und nicht umgekehrt. Das geht nur mit Zeit. Und die sei nicht nur gut für den Kaffee, sondern auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.