Neues Konzept im ältesten Haus der Stadt
Im Café Anker Villa in Rheda-Wiedenbrück sorgen Menschen mit und ohne Behinderung für perfekten Service
Kuchen verkaufen, das macht Ann-Sophie Bathe am liebsten. „Heute haben wir Käsekuchen, Apfelkuchen, Kirsch-Krokant und Mandarine-Maracuja“, zählt sie auf. In ihrer roten Schürze steht die zierliche junge Frau hinter der Kuchentheke oder bringt den Gästen Kaffee an den Tisch. Zwischendurch verpackt sie kleine Nussecken für den Verkauf, bindet sorgfältig rote Schleifen um die durchsichtigen Cellophan-Tüten.
Ann-Sophie Bathe gehört zu den vier Mitarbeitern mit Behinderung im Integrationsunternehmen Café Anker Villa in Rheda-Wiedenbrück. Sie hat starke Lernschwierigkeiten, vor allem Mathematik ist ihr immer schwergefallen. Zahlen machen ihr Probleme, Abläufe und Daten kann sie sich schlecht merken. Doch ihr größtes Handicap, sagt die 23-Jährige, ist ihre Schüchternheit. „Ich bin manchmal unsicher und ich traue mich viele Sachen nicht“, erzählt sie. „Am liebsten würde ich mich in mein Schneckenhäuschen zurückziehen.“
Nach der Schule machte Ann-Sophie Bathe eine Ausbildung zur Restaurant-Fachgehilfin im Hotel Aspethera in Paderborn, wie die Anker Villa ein Integrationsbetrieb. Für den neuen Job zog die gebürtige Soesterin nach Rheda-Wiedenbrück. Zwanzig Stunden pro Woche arbeitet sie. Ihre Wohnung liegt zwei Kilometer vom Café entfernt, den Weg fährt sie jeden Tag mit dem Fahrrad.
Die Stelle ist ein Glücksfall, findet Ann-Sophie Bathe: „Die Kollegen nehmen einen so, wie man ist. Und wenn mal was schiefgeht, geht es eben schief.“ Vor allem wenn es im Café voll wird, kommt die Unsicherheit, dann braucht sie auch mal eine Pause. „Die Kollegen respektieren das und helfen, solche Stresssituationen zu überbrücken“, sagt ihre Chefin Wiltrud Schnitker. Doch ihre neue Mitarbeiterin hat sich entwickelt, stellt sie fest: „Sie wird immer mutiger und selbständiger.“
Der Weg zum Integrationsunternehmen war für die 48-Jährige nicht unbedingt vorgezeichnet. Vor 14 Jahren eröffnete sie das Café in der Anker Villa, dem ältesten Gebäude in der Stadt - gemeinsam mit ihrem Mann, der 2008 schwer erkrankte und zwei Jahre später starb. „Die Arbeit war allein einfach nicht mehr zu schaffen“, sagt Wiltrud Schnitker heute. Sie hatte Glück im Unglück: Die Evangelische Stiftung Ummeln in Bielefeld, die sich seit den siebziger Jahren in der Behindertenhilfe engagiert, übernahm das Gebäude und das Café. 2009 fiel die Entscheidung, den Betrieb als Integrationsunternehmen neu zu gründen, mit Wiltrud Schnitker als Leiterin. Der Grund für die Übernahme:
„Neben unseren Werkstätten wollten wir für Menschen mit Behinderung auch Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt“, sagt Lisa Kübler. Seit Anfang 2010 arbeitet die 27-Jährige für die Stiftung als Projektmanagerin des Cafés. Ein Traumjob, wie die gelernte Erzieherin sagt, die nach ihrer Ausbildung Sozialmanagement studierte. „Es macht Spaß, zu sehen, wie zufrieden Ann-Sophie und die Kollegen hier sind“, erzählt Lisa Kübler, die beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), beim Land Nordrhein-Westfalen, der Aktion Mensch und der Stiftung Wohlfahrtspflege die Förderanträge für den Umbau der Anker Villa stellte. Jetzt kümmert sie sich um die Personalplanung und kommt zwei bis dreimal im Monat zu Teamgesprächen nach Rheda-Wiedenbrück.
Seit der Neueröffnung laufen die Geschäfte gut. „Wir haben umgebaut“, erklärt Wiltrud Schnitker einen Grund für den Erfolg. „Nur das Holzparkett ist geblieben, das komplette Innenleben ist neu.“ Schwere dunkle Holzbalken, Sitzpolster in warmen Rot-, Orange- und Gelbtönen und ein riesiger Stoff-Kronleuchter über drei Etagen schaffen eine gemütliche Atmosphäre. Die Flex-Treppe, die seit dem Umbau vom Eingang mit dem großen weißen Holztor ins Innere führt, hilft Rollstuhlfahrern: Auf Knopfdruck klappen die Treppenstufen hoch und verwandeln sich in ein ebenes Podest, das als Aufzug genutzt werden kann.
Zu Anfang war der Erfolg nicht unbedingt absehbar. Die Rheda-Wiedenbrücker begegneten dem Integrationsprojekt skeptisch. „Was macht ihr da eigentlich?“, fragten sie, erinnert sich Lisa Kübler. „Es gingen Gerüchte um, dass das Café nur noch für Menschen mit Behinderung sei.“ Es habe eine Weile gedauert, bis die Nachbarn mit dem neuen Konzept warm wurden.
Ähnlich erging es Wiltrud Schnitker und ihren nicht behinderten Mitarbeitern. Wenige kannten die Arbeit mit Menschen mit Behinderung. „Wir hatten schon Berührungsängste“, erzählt die Chefin offen, die von der Evangelischen Stiftung Ummeln mit Fachtagen und kontinuierlicher Beratung unterstützt wird. Inzwischen ist die Belegschaft gut zusammengewachsen. „Ich bin angenehm überrascht, auch von mir selbst, wie viel Geduld ich habe“, sagt sie und lacht. Auch Ann-Sophie Bathe lächelt: „Wir sind ein Super-Team“, stimmt sie zu.
Damit die junge Frau in ihrem Job immer besser wird, sitzt heute Christina Pohlmann neben ihr. Die 40-Jährige Soziologin und gelernte Bühnentänzerin ist seit Anfang November Ann-Sophie Bathes Job-Coach. Sie unterstützt sie bei der Arbeit, 50 gemeinsame Stunden sind geplant. Finanziert werden diese ebenfalls vom LWL. „Ein Problem ist zum Beispiel der Umgang mit größeren Gruppen, wenn es sehr laut und konfus wird“, sagt Christina Pohlmann. „Dafür gebe ich konkrete Tipps.“ Meistens schaut sie Ann-Sophie Bathe erst einmal zu, greift dann ein, wenn es nötig wird. Ein komisches Gefühl ist es manchmal schon, wenn ihr jemand zusieht, erzählt Ann-Sophie Bathe. „Aber die zwei bis drei Stunden merke ich gar nicht, das geht immer viel zu schnell vorbei!“
Außerdem lernt Christina Pohlmann ebenfalls dazu. Sie probiert alle Arbeiten aus, die Ann-Sophie Bathe erledigen muss. „Kaffee zapfen kann ich schon, die meisten anderen Sachen noch nicht“, erzählt Christina Pohlmann und lacht. „Dann korrigiert mich Ann-Sophie.“